Die bekannte indianische Geschichte von den „Zwei Wölfen“ hat mich immer etwas ratlos zurückgelassen. Sie erzählt, viele von Euch kennen sie, von einem Alten und einem Jungen im Gespräch über Gut und Böse.

„In mir“ so der Alte, „tobt ein Kampf zwischen zwei Wölfen. Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego. Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.“ Der Junge denkt einige Zeit über die Worte des Alten nach, und fragte dann: „Welcher der beiden Wölfe gewinnt?“ Der Alte antwortete: „Der, den du fütterst.“

So weit, so gut. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann hungert der böse Wolf noch immer? Ist das die Lösung? Ich empfinde ein Unwohlsein. Irgendetwas stimmt da nicht, für mich. Schon an der Grundannahme der Geschichte, dass es nämlich das „ausschließlich Böse“ und das „ausschließlich Gute“ gibt, habe ich Zweifel. Die Wölfe stehen sich unversöhnlich gegenüber und bekämpfen einander – warum eigentlich? Warum lassen sie sich nicht einfach gegenseitig in Ruhe? Warum lässt sich der „ausschließlich Gute“, erfüllt von Güte, Wohlwollen und Mitgefühl, überhaupt auf so einen Kampf ein? Und liegt die Lösung wirklich darin, das Böse mit Missachtung zu strafen, es zu verbannen und hungern zu lassen? Und lenkt die Frage „Welcher der Wölfe gewinnt?“ nicht alles in die ganz falsche Richtung?

Was heilt die Wölfe von der Vorstellung, sich bekämpfen zu müssen?

Ich frage mich: Was heilt die Wölfe von der Vorstellung, sich gegenseitig bekämpfen zu müssen? Was heilt sie von der Vorstellung, dass einer der beiden ausschließlich gut und der andere von Grund auf schlecht ist? Was bringt die beiden in ein Gleichgewicht, das ihnen hilft, miteinander zu leben und voneinander zu lernen? Die Aspekte der wölfischen Natur (oder geht es um die menschliche Natur?) klar zu erkennen und zu benennen ist ein Anfang. Ja, da sind Neid, Egoismus, Zorn und Gier. Und ja, da sind auch Güte, Mitgefühl, Freundlichkeit, Vertrauen. Aber: Liegen all den vermeintlich „schlechten“ Anteilen nicht letztlich verletzte, traumatisierte, missachtete und hungrige „gute“ Anteile zugrunde? Und liegen nicht allen „guten“ Anteilen Hass, Vorurteile, Selbstsucht, Neid und Ängste zugrunde, die geheilt wurden?

Eine andere Sichtweise auf die Geschichte von „Gut gegen Böse“ wäre: die Wölfe benötigen einander, und zwar dringend. Es geht nicht darum, dass einer Macht über den anderen gewinnt, weil das die Probleme nicht löst. Beide brauchen Zuwendung, Aufmerksamkeit, freundliches Interesse, Bemerken „Ah, da bist du ja!“.

Zu bemerken und anzuerkennen, dass es beide gibt, ist allerdings nicht das Ende der Geschichte. Es ist erst der Anfang. Und dieser Anfang wiederholt sich, wie die Geschichte von den Wölfen, in jedem neuen Augenblick. Unsere Aufgabe als Menschen liegt nicht darin, einen der Wölfe zu verurteilen und zu bestrafen. Sie liegt darin, zu erkennen und zu heilen.

Bild von István Károly Bőcs auf Pixabay